Fortsetzung:
Städter und Bauern mußten darüber hinaus einen Lernprozeß analog anderer Formen ökologisch-partizipativer Betriebe durchlaufen, der ebenfalls viel Zeit erforderte: die "Professionalisierung". Zu lernen waren für alle EVG-Mitglieder die Grundlagen praktischer Vermarktungsarbeit. Das gilt vor allem für die EVGs, die Direktvermarktung über einen oder mehrere eigene Läden betrieben. Für die Verbraucher bedeutete dies den Einstieg in betriebswirtschaftliche Kalkulation, Organisation und Marketing. Für die Bauern erforderte das die Umstellung auf eine der Direktvermarktung angepaßte Produktpalette und das Sich-selbst-kümmern-müssen um Aufbereitung, Präsentation und Transport der eigenen Produkte.
Dieser Prozeß erforderte von beiden Seiten meistens soviel Anstrengung, daß hierfür alle Kapazitäten an Zeit und Engagement gebunden wurden. Als Ausweg entwickelten die Beteiligten in vielen Fällen die Vermarktungsarbeit weiter zu bezahlter Berufsarbeit. Dazu gehört Einstellung qualifizierter Arbeitskräfte oder, soweit möglich, verstärkte Ausbildung in den eigenen Reihen. Dafür mußte allerdings erst ausreichend Geld erwirtschaftet, also hoher Umsatz bzw. Gewinn erzielt werden. Überbrückungen ermöglichte die Einstellung mit staatlichen Transferleistungen bezahlter Arbeitskräfte, Zuschüsse aus dem Eigenkapital der Mitglieder oder anderen Quellen. Ab einer gewissen Phase aber, so der sich zunehmend durchsetzende Trend, mußte sich ein Laden selbst tragen können. Gescheitert, bis zur völligen Auflösung der Gruppe und Verlust sämtlicher Investitionen, sind letztlich nur wenige Erzeuger-Verbraucher-Gemeinschaften. Dennoch kristallisierten sich bei den einzelnen Gruppen sehr unterschiedliche und zum Teil von den ursprünglichen Zielvorstellungen erheblich abweichende Strukturen und Praktiken heraus. Sie sind als Konzessionen an den Wettbewerb als Abstriche vom Idealbild und damit vom angestrebten Erfolg zu werten. Verdeutlichen läßt sich dies am Thema "gerechte Preise".
Der gerechte Preis soll sich an den Lebensbedingungen und finanziellen Möglichkeiten der Erzeuger und Verbraucher orientieren, so heißt es in der sogenannten Altenkirchener Erklärung, die 1987 auf einem Treffen der EVGs als gemeinsames Selbstverständnis verabschiedet wurde. Das bedeutet, er müßte individuell bestimmt und variabel sein, entsprechend den sehr unterschiedlichen Ausgangsbedingungen der einzelnen Erzeugerbetriebe und der verschiedenen Verbraucherhaushalte. Die Folge ist, der gerechte Preis, beispielsweise für ein Kilo Möhren gemessen an tatsächlichen Produktionskosten, Arbeitskräftebesatz, Rationalisierungsgrad etc., sieht für einen 4-ha-Betrieb mit einem Morgen Möhrenanbaufläche völlig anders aus, als für einen 40-ha-Betrieb mit mehreren Hektar Feldgemüseanbau.
Der Wirtschaftsbetrieb einer EVG befindet sich aber selten in der Lage, die Differenzen zwischen den einzelnen Erzeugerbetrieben auszugleichen. Er ist wie jeder andere Laden mit der Festlegung auf einen bestimmten Standort abhängig von dem lokalen und regionalen Markt, dem vorhandenen bzw. erschließbaren Kundenpotential, dem Konkurrenzangebot anderer Läden. Insofern besteht nur wenig Spielraum bei der Kalkulation der Preisaufschläge, die die laufenden Kosten des Betriebes decken müssen. Aufgrund dieser Bedingungen kann im besten Fall, von einem "gerechteren" Preis in dem Sinne gesprochen werden, daß dieser nicht ausschließlich den schwer beeinflußbaren Schwankungen des Marktes unterliegt. Vielmehr wird versucht, ihn auf einem Niveau zu halten, das das Überleben der Erzeugerbetriebe auch ohne Wachstumszwang ermöglicht. Bereits damit können aber Schwankungen verbunden sein, die die Existenz eines Kleinbetriebes mit schlechtem Standort gefährden, während ein größerer Betrieb mit günstigerem Standort bei gleicher Qualitätsproduktion gut existieren kann. Die aktuellen Verdrängungsprozesse auf dem immer größer werdenden Bio-Markt veranschaulichen diese Problematik.
Auch einen anderer Anspruch, die konsequente Ausrichtung auf regionale und saisonale Versorgung, erfüllen die meisten EVGs nur noch bedingt. Ein Laden, dessen Wirtschaftlichkeit von einem ausreichend hohen Umsatz abhängt, kann von einem ausschließlich regional und saisonal begrenzten Produktangebot nicht existieren. Dementsprechend bieten fast alle EVG-Läden ein Sortiment an Lebensmitteln und sonstigen Produkten aus dem Biohandel an, das über die Produktion der zugehörigen Erzeuger-Betriebe hinausgeht. Sie müssen so den Verbraucherwünschen nach einem möglichst vielfältigen Angebot entgegenkommen. Dabei handelt es sich keineswegs um exotische Luxusgüter, sondern um für die meisten selbstverständlich gewordene Grundnahrungsmittel wie Reis oder Zitrusfrüchte. Sie wachsen nicht in Deutschland und werden deshalb aus anderen Ländern und Erdteilen importiert. EVGs legen Wert darauf, solche Produkte möglichst von Produzenten oder Kooperativen aus den anderen Ländern direkt zu beziehen. Auf diese Weise können sie ihrem Grundsatz, der Unterstützung bäuerlicher Erzeuger, auch bei ihren Auslandsbeziehungen großteils gerecht werden.
Nur EVGs, die sich auf die Selbstversorgung beschränken, also kleinere oder größere Einkaufsgemeinschaften mit nur einem Lagerraum und einem ausschließlich auf Eigenarbeit beruhenden Verteilsystem ausschließlich für Mitglieder, umgehen einige der angesprochenen Probleme. Sie werden dort erst aktuell, sobald ein Geschäftsbetrieb mit bezahlten Arbeitskräften eingeführt wird. Der Konflikt zwischen den ideellen Ansprüchen und der alltäglichen Realität bleibt allerdings auch in solchen selbstversorgenden EVGs ungelöst. Er wird auf das einzelne Mitglied verschoben, indem dieses Waren, die innerhalb der EVG nicht zu bekommen sind, über den herkömmlichen Einzelhandel beziehen muß.
Bei allen diesen Themen, über die teilweise heftige Auseinandersetzungen geführt wurden, zeigt sich immer wieder das Innovationspotential der meisten EVGs. Vor allem die Geschichte der größeren und schon länger bestehenden Erzeuger-Verbraucher-Genossenschaften veranschaulicht, wie sie an ihren selbstgesetzen Aufgaben wachsen. Sie experimentieren selbst innerhalb einer Gruppe mit verschiedensten Organisations- und Direktvermarktungsformen und passen sich flexibel unterschiedlichen lokalen und regionalen Märkten an. Dabei nutzen sie von den konventionellen Marketingansätzen vieles, ohne ihren eigenständigen Charakter zu verlieren. Beispiele hierfür sind die Bremer Erzeuger-Verbraucher-Genossenschaft oder die EVG Landwege e.V. in Lübeck. Hervorzuheben ist auch die TAGWERG e.G in Dorfen bei München, der es sogar gelungen ist, ein eigenes Markenzeichen aufzubauen.
Bis heute zeichnet die EVGs ein eigener Kommunikations- und Erfahrungszusammenhang aus. Kontroverse Diskussionen untereinander werden immer wieder auf den jährlich stattfindenden Treffen der EVGs geführt. Denn trotz aller Professionalisierung beschränkt sich das Austauschbedürfnis nicht auf das fachliche Lernen voneinander, sondern geblieben ist bei vielen weiterhin der Wunsch nach mehr öffentlicher und politischer Wirksamkeit über die eigenen Gruppenzusammenhänge hinaus, um bei der Diskussion über nachhaltiges Wirtschaften eigene ökologische und soziale Impulse zu setzen.