SOZIALGENOSSENSCHAFT

 

Sozialgenossenschaften - Wege zu mehr Beschäftigung, bürgerschaftlichem Engagement und Arbeitsformen der Zukunft

Wirtschaftlichkeit und sozialpolitisch verantwortliches Handeln müssen sich nicht widersprechen. Das verdeutlicht das breite Spektrum vorhandener Sozialgenossenschaften, die sich in den letzten Jahren entwickelt haben. Sie reichen von Unternehmen zur Arbeitsplatzsicherung für benachteiligte Gruppen über Betriebsgenossenschaften, die Tagesstätten für behinderte Kinder oder Schulen führen, bis hin zu neuen Dienstleistungskooperativen im Altenbereich. Der Durchbruch innerhalb der Vielfalt genossenschaftlicher Unternehmen als eingetragene Genossenschaft - e.G. - ist ihnen in Deutschland bisher allerdings nicht gelungen.

Älteres Beispiel für eine gelungene Sozialgenossenschaft sind die GDS Gemeinschaftsdienste Stolberg e.G. Christen beider Konfessionen gründeten im Herbst 1985 die Dienstleistungsgenossenschaft, um Dauerarbeitsplätze für Jugendliche und Langzeitarbeitslose zu schaffen. Im Durchschnitt stehen Beschäftigungsmöglichkeiten für etwa 15 Personen zur Verfügung. Zu diesem Zweck wird so gut wie jeder angebotene Auftrag übernommen. Sie umfassen Tätigkeiten in Haus, Hof und Garten, bei der Landschaftsreinigung und -pflege, im Bautenschutz und bei der Raumgestaltung. Die finanzielle Basis dafür wird durch die Genossenschaftsanteile der rund 150 Mitgliedern geschaffen, die teilweise auch für neue Aufträge sorgen.

Vorzeigeprojekte der Spastikerhilfe Berlin e.G. sind Kindertagesstätten. Sie wollen und können nicht Kitas wie andere sein. Schon im Namen des Trägers ist die Verpflichtung der Betreuung von Menschen mit Bewegungsstörungen festgeschrieben. Lange Zeit stand die gesonderte Unterbringung behinderter Menschen bei Hilfseinrichtungen im Vordergrund. In Abgrenzung dazu orientiert sich die Spastikerselbsthilfe an dem „Normalisierungsprinzip": Versucht wird, die Lern- und Entwicklungsfähigkeit in und durch Normalität zu fördern. Beim Miteinander von behinderten und nichtbehinderten Kindern entwickelt sich so ein selbstverständlicher Umgang.

Die Genossenschaft Begleitung - Hausbetreuung, Bestattung, Trauerkultur e.G. mit Sitz in Köln besteht seit 1990. Zur Zeit gibt es knapp 200 Mitglieder, die aus dem gesamten Bundesgebiet kommen. Die Genossenschaft ist eine sozial-kulturelle Selbsthilfeinitiative angesichts der weitverbreiteten Hilflosigkeit, mit der Wirklichkeit des Todes umzugehen. Sie versteht sich als Initiative für neue Wege im Umgang mit Leben, Älterwerden, Tod und Trauer. Ein Arbeitsschwerpunkt ist die Lebenshilfe und Hausbetreuung. Auch verfügt die Genossenschaft über einen eigenen Bestattungsdienst, der sich um Alternativen zum weithin routinierten und kommerzialisierten Bestattungsbetrieb bemüht.

Die Bezeichnung dieser Unternehmen als Sozialgenossenschaften verdeutlicht ihren eigenständigen Charakter. Wenn sie erfolgreich sind, können sie helfen, drei Ziele gleichzeitig zu verwirklichen: mehr Arbeitsplätze, bessere soziale, gesundheitliche oder erzieherische Versorgung und selbstbestimmte Arbeit. Dem Begriff Sozialgenossenschaften läßt sich ein sehr breites Spektrum von Genossenschaften zuordnen, deren Mitglieder oder Beschäftigte im sozialen Sektor arbeiten. Unterschieden werden Sozialgenossenschaften Betroffener sowie solidarische und professionelle Sozialgenossenschaften.

Bei Sozialgenossenschaften Betroffener organisieren sich Menschen zur Lösung gemeinsamer Probleme in Selbsthilfe. Unterstützung von außen ist dabei nicht ausgeschlossen. Dies können Arbeitslosengenossenschaften, Blinden- oder Kriegsversehrtengenossenschaften sein. Aufgrund besonderer Eigenschaften der Beteiligten wie Krankheit, Behinderung oder Randgruppenstatus erfahren sie als Wirtschaftsunternehmen im Wettbewerb vielfältige Benachteiligungen. Als Ausgleich hierfür versuchen sie deshalb, (teil-)geschützte Arbeitsmöglichkeiten zu bieten.

Solidarische Sozialgenossenschaften greifen verstärkt auf die im Sozialbereich verbreitete Form des Ehrenamts zurück. Das bedeutet, zumindest ein größerer Teil der innerhalb der Genossenschaft zur Verfügung gestellten Leistungen werden nicht entlohnt, sondern durch Arbeitsaustausch oder unentgeltliche Arbeit zugunsten anderer eingebracht. Der Nutzen dieser Form von Kooperative kommt häufig Benachteiligten zugute, die nicht Mitglieder der Kooperative sind. Seniorengenossenschaften oder Tauschringen stelle bekanntere Beispiele dar.

Professionelle Sozialgenossenschaften gleichen am stärksten herkömmlichen Genossenschaften. Sie bieten ihr Leistungsspektrum - soziale Dienstleistungen - am Markt wie jedes andere Unternehmen an. Das geschieht oftmals für öffentliche Einrichtungen, aber auch direkt für Klienten. Als Gegenwert erhalten sie dafür einen Marktpreis. Die Mitglieder bzw. Betreiber finden dadurch Arbeit und Einkommen. Insofern gehören die Mitglieder oder die Angestellten meistens zu einer qualifizierten Berufsgruppe im Sozialbereich.

Alle drei Formen von Sozialgenossenschaften können Modelle für die Zukunft der Arbeit sein. Zu diesem Zweck müssen allerdings Gründungsprobleme behoben werden. Hintergrund für diese ist die fehlende Unterstützung durch die genossenschaftlichen Prüfungsverbände. Die Gemeinwohlorientierung gehört in anderen Ländern zum Selbstverständnis von Genossenschaften. In Deutschland wird dies nicht nur ignoriert, sondern von den etablierten Verbänden sogar abgelehnt.

Entsprechend stecken die genossenschaftlichen Prüfungsverbände seit Jahrzehnten den Rahmen für Genossenschaftsgründungen mit sozialen Zielen sehr eng. Verallgemeinerte gemeinwohlorientierte Ansprüche an diese Rechtsform werden so schon im Ansatz vermieden. Ein Lösung für die Zukunft könnte sein, daß die Wohlfahrtverbände eigene genossenschaftliche Prüfungsverbände für den sozialen Sektor gründen. Die bisherige Arbeitsteilung zwischen beiden Verbandsformen würde dann nicht weiter durch Verzicht auf das Nutzen der genossenschaftlichen Rechtsform verfestigt. Vielmehr könnten die Sozialgenossenschaften unter der Lobbyarbeit der Wohlfahrtsverbände einen immensen Aufschwung erfahren.

Literaturempfehlung: Burghard Flieger: Produktivgenossenschaft als fortschrittsfähige Organisation. Theorie, Fallstudie Handlungshilfen, Metropolis Verlag, 2. Aufl., Marburg l997,DM 68,-- (Fax: 06421/681918). Die Monographie ist das Ergebnis einer fünfzehnjährigen Auseinandersetzung des Autors mit dem Thema Genossenschaften. Sie stellt in gewisser Weise eine „Enzyklopädie" produktivgenossenschaftlicher Organisationen vor allem im deutschen Sprachraum dar. Darüber hinaus werden aber auch bedeutende neue Überlegungen zu Theorie und Praxis produktivgenossenschaftlicher Unternehmen ausgearbeitet. Sie können als Handlungshilfen für die Stabilisierung und Weiterentwicklung partizpativer Betriebe einschließlich von Sozialgenossenschaften genutzt werden.